Erbrecht - OLG München zur Auslegung eines privatschriftlichen Testaments

Erbrecht - OLG München zur Auslegung eines privatschriftlichen Testaments

„1. Zur Auslegung eines privatschriftlichen Testaments, das der Erblasser mehr als zehn Jahre vor seinem Tod errichtet hat und das als Erben denjenigen bestimmt, der den Erblasser bis zu seinem Tod gepflegt und betreut und gleichzeitig eine Person nennt, die dies gegenwärtig tut.

2. Ein Testament ist nichtig, wenn der Wortlaut der Verfügung so unbestimmt ist, dass die Auslegung ergebnislos bleiben muss.

3. Auf einen Mindestbedeutungsgehalt der vom Erblasser verwendeten Begriffe kann nur dann abgestellt werden, wenn feststeht, dass der Erblasser diese in eben jenem Sinne verwendet hat.“

OLG München, Beschluss vom 02.10.2023 – 33 Wx 38/23 e

 

Bei Fragen zur Auslegung privatschriftlicher Testamente sowie zu deren Herstellung stehen Ihnen unsere auf das Erbrecht spezialisierten Anwälte kompetent zur Verfügung.


Insolvenzrecht - Schadensersatzpflicht des Wirtschaftsprüfers im Insolvenzverfahren

Insolvenzrecht - Schadensersatzpflicht des Wirtschaftsprüfers im Insolvenzverfahren

„1.
Die vom BGH entwickelten Grundsätze zur Haftung des Steuerberaters für die Erstellung eines unzutreffenden Jahresabschlusses – wie sie zuletzt in der Entscheidung des BGH vom 26.01.2017 (IX ZR 285/14) ihren Niederschlag gefunden haben – finden auch auf die Haftung des Wirtschaftsprüfers Anwendung.

2.
Eine Pflichtverletzung des Wirtschaftsprüfers scheidet aus, wenn der Lagebericht eine eindeutige Formulierung aufweist, aus welcher er schließen kann, dass der Geschäftsleitung ein Insolvenzrisiko bekannt war.“

LG Ingolstadt, Beschluss vom 22.05.2023 – 81 O 2018/22, Beck RS 2023, 20727.

Hintergrund

Der Kläger macht als Insolvenzverwalter der UG & Co. KG Schadensersatzansprüche gegen die Beklagte aufgrund eines Insolvenzvertiefungsschadens geltend. Die im Jahr 2016 als GmbH & Co. KG gegründete UG (haftungsbeschränkt) & Co. KG bot auf dem Kapitalmarkt Kapitalanlagen an und bewarb diese. Das hierbei praktizierte Anlagemodell sah vor, dass private Anleger der Schuldnerin ein Darlehen gewähren. Die eingeworbenen Gelder sollten ihrerseits als Darlehen und Projektgesellschaften weitergereicht werden, die mit den Geldern Anlagen zur Erzeugung erneuerbarer Energien errichten und betreiben sollten. Die Darlehensverträge zwischen der Schuldnerin und den Anlegern einerseits und der Schuldnerin und den Projektgesellschaften andererseits enthielten jeweils qualifizierte Rangrücktrittsklauseln. Durch diese sollte das wirtschaftliche bzw. unternehmerische Risiko vollständig auf die Darlehensgeber verlagert werden. Die Schuldnerin beauftragte die Antragsgegnerin, den Jahresabschluss der Schuldnerin für das Jahr 2018 und den hierzu erstellten Lagebericht im Rahmen des ihr erteilten Prüfauftrags am 10.09.2019 zu erstellen. Der Jahresabschluss aus dem Jahr 2018 wurde von der Antragsgegnerin mit folgender Bemerkung versehen:

„Die Gesellschaft weist zum 31.12.2018 einen nicht durch Vermögensanlagen gedeckten Fehlbetrag aus. Eine Überschuldung im Sinne der Insolvenzordnung ist aufgrund der Rangrücktrittsvereinbarungen in den in der Gesellschaft gewährten Nachrangdarlehen nicht gegeben.“

Sie hat den erstellten Jahresabschluss für das Jahr 2018 am 10.09.2019 testiert. Der Antragsteller trägt vor, dass dem Geschäftsführer der Schuldnerin zwar die Problematik der Wirksamkeit der Nachrangklausel bekannt gewesen sei. Er habe demgegenüber den Zusammenhang zwischen der Unwirksamkeit der Nachrangklauseln an dem Fehlen einer positiven Führungsprognose nicht gekannt und damit keine Kenntnis von seiner Verpflichtung, einen Insolvenzantrag zu stellen, gehabt.

Für den Fall, dass der Geschäftsführer der Schuldnerin von der Beklagten auf das Fehlen einer positiven Fortführungsprognose hingewiesen worden wäre, wäre er seiner Verpflichtung, einen Insolvenzantrag zu stellen, umgehend nachgekommen. Die Antragsgegnerin sei zum Ersatz des entstandenen Insolvenzvertiefungsschaden verpflichtet.

Landgericht verneint Haftung des Wirtschaftsprüfers

Eine Haftung der Antragsgegnerin unter dem Gesichtspunkt einer Verletzung von Hinweis- und Warnpflichten nach den §§ 280 Abs. 1, 675 Abs. 1 BGB kommt bereits deswegen nicht in Betracht, da die Antragsgegnerin bzw. der konkret für sie tätige Prüfer Grund zu der Annahme hatte, dass die Insolvenzschuldnerin sich der Umstände, die auf einen Insolvenzgrund hinweisen – hier die Problematik der Rechtswirksamkeit der Nachrangklauseln – bewusst und in der Lage war, die tatsächliche und rechtliche Bedeutung dieser Umstände einzuschätzen.

Der Lageplan ist ein selbstständiger Teil des Jahresabschlusses. Dieser wird zwar, wie auch die anderen Teile, vom Wirtschaftsprüfer testiert. Der Wirtschaftsprüfer erstellt jedoch den Lagebericht nicht selbst. Außerdem wurde der Lagebericht vom damaligen Geschäftsführer der Insolvenzschuldnerin gezeichnet. Lediglich das Testat am Ende des Jahresabschlusses stammt vom Wirtschaftsprüfer. Da beim Lagebericht der damalige Geschäftsführer somit selbst festgehalten hat, dass eine Überschuldung der Firma im insolvenzrechtlichen Sinne nur wegen der Rangrücktrittsvereinbarungen in den der Gesellschaft gewährten Nachrangdarlehen nicht gegeben sei, steht zur Überzeugung des Gerichts bereits positiv fest, dass dem Geschäftsführer der Insolvenzschuldnerin die tatsächliche und auch rechtliche Problematik der nach Rechtswirksamkeit der Nachrangklauseln bewusst und in der Lage war, die tatsächliche und rechtliche Bedeutung bewusst war.

Eine Pflichtverletzung des Wirtschaftsprüfers scheidet hier also aus, wenn der Lagebericht eine eindeutige Formulierung aufweist, aus welcher man erschließen kann, dass der Geschäftsleitung ein Insolvenzrisiko bekannt war. Es bleibt festzuhalten, dass aber grundsätzlich die vom BGH entwickelten Grundsätze zur Haftung des Steuerberaters für die Erstellung eines unzutreffenden Jahresabschlusses auch auf die Haftung eines Wirtschaftsprüfers Anwendung finden.

Unsere auf das Insolvenzrecht spezialisierten Anwälte stehen Ihnen bei der Geltendmachung und Durchsetzung von Schadensersatzansprüchen gegen einen beauftragten Wirtschaftsprüfer oder Steuerberater kompetent zur Verfügung.


Insolvenzrecht - Schadensersatzpflicht des Rechtsberaters im Insolvenzverfahren

Insolvenzrecht - Schadensersatzpflicht des Rechtsberaters im Insolvenzverfahren

„1.
Die Einbeziehung eines Dritten in den Schutzbereich des zwischen Rechtsberater und Mandant geschlossenen Mandatsvertrags ist nicht allein deshalb ausgeschlossen, weil dem Berater im Verhältnis zum Mandanten nur eine Schutz- oder Fürsorgepflichtverletzung zur Last fällt.

2.
Die Hinweis- und Warnpflicht des Rechtsberaters bei möglichem Insolvenzgrund kann Drittschutz für den Geschäftsleiter der juristischen Person oder Gesellschaft ohne Rechtspersönlichkeit entfalten; Voraussetzung ist ein Näheverhältnis zu der nach dem Mandatsvertrag geschuldeten Hauptleistung.

3.
In den Schutzbereich des Vertrags bei Verletzung der Hinweis- und Warnpflicht bei möglichem Insolvenzgrund kann auch ein faktischer Geschäftsleiter einbezogen sein.“

 

Hintergrund

Der BGH entschied in einem Fall, in welchem die Klägerin die Beklagte als Haftpflichtversicherer eines in insolvenzgefallenen Rechtsanwalts in Anspruch nimmt. Sie macht geltend, ihr stünden Schadensersatzansprüche aus abgetretenem Recht gegen den versicherten Rechtsanwalt zu, da dieser Hinweis- und Warnpflichten verletzt habe.

Zedenten des abgetretenen Schadensersatzanspruchs sind M und J. M Senior war bis Ende 2009 Geschäftsführer der persönlich haftenden Gesellschafterin der M GmbH & Co. KG. Danach wurde sein Sohn J Junior, Geschäftsführer. Die Klägerin behauptet, M Senior sei weiterhin faktisch als Geschäftsführer tätig gewesen. Die KG beauftragte den Rechtsanwalt ab Juli 2009 wiederholt mit ihrer Beratung. Auf Antrag vom 04.06.2012 wurde am 01.08.2012 das Insolvenzverfahren über das Vermögen der KG eröffnet. Der Insolvenzverwalter nahm M und J wegen verbotener Zahlungen nach Insolvenzreife in Anspruch. Diese verpflichteten sich im Wege eines Vergleichs als Gesamtschuldner zu einer Zahlung in Höhe von 85.000,00 €. Die Zahlung wurde geleistet.

In Höhe dieses Betrags verlangt die Klägerin von dem beklagten Haftpflichtversicherer Schadensersatz. Sie meint, der Rechtsanwalt habe seine Beratungspflichten im Blick auf eine bestehende Insolvenzreife der KG verletzt; M und J sind als formaler und faktischer Geschäftsführer in den Schutzbereich der mit der KG geschlossenen Mandatsverträge einbezogen gewesen. Auf dieser Grundlage begehrt die Klägerin zudem Ersatz von Rechtsanwaltskosten in Höhe von 11.766,66 €, die M und J in der rechtlichen Auseinandersetzung mit dem Insolvenzverwalter über den geltend gemachten Anspruch wegen Zahlungen nach Insolvenzreife entstanden sind.

Landgericht gibt Klage statt

Das Landgericht hat der Klage in Höhe von 96.766,66 € stattgegeben. Das Berufungsgericht hat die Klage abgewiesen. Mit ihrer vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin den Anspruch weiter.

BGH – Klägerin hat Anspruch auf Schadensersatz

Nach Auffassung des BGH hat das Berufungsgericht sich nach Beweisaufnahme nicht davon überzeugen können, dass der Rechtsanwalt im Sinne einer Hauptpflicht gehalten gewesen sei, auf einen möglichen Insolvenzgrund und die daran anknüpfenden Handlungspflichten der organschaftlichen Vertreter der KG hinzuweisen. Ob eine entsprechende Nebenpflicht bestanden habe, hat das Berufungsgericht offengelassen. Insoweit fehle es an einer Einbeziehung der Vertreter in den Schutzbereich des zwischen dem Rechtsanwalt und der KG geschlossenen Mandatsverträge. Bestünden bloß nebenvertragliche Hinweis- und Warnpflichten, etwa wenn sich im Zusammenhang mit der anwaltlichen Tätigkeit als Punkte für die Gefahr einer Insolvenz des Mandanten ergeben, führe es zu weit, den organschaftlichen Vertreter in den haftungsrechtlich relevanten Schutzbereich des Vertrags zwischen der Gesellschaft und dem Rechtsanwalt auch hinsichtlich der Verletzung solcher bloß nebenvertraglichen Pflichten einzubeziehen. Dem folgt der BGH nicht.

Die Einbeziehung eines Dritten in den Schutzbereich des zwischen Rechtsberater und Mandant geschlossenen Beratungsvertrages ist nicht allein deshalb ausgeschlossen, weil dem Berater im Verhältnis zum Mandanten nur eine Schutz- oder Fürsorgepflichtverletzung (§ 241 Abs. 2 BGB) zur Last fällt.

Vor diesem Hintergrund kann offenbleiben, ob es revisionsrechtlicher Prüfung standhält, dass sich das Berufungsgericht nicht hat von einer Haftpflicht des Rechtsanwalts überzeugen können, auf eine mögliche Insolvenzreife der KG und die daran anknüpfenden Handlungspflichten hinzuweisen. Die Einbeziehung eines Dritten in den Schutzbereich eines Vertrags kommt auch dann in Betracht, wenn der Vertragsschuldner nur eine Schutz- oder Fürsorgepflicht verletzt hat. Auch die Hinweis- und Warnpflicht des Rechtsberaters bei möglichem Insolvenzgrund kann Drittschutz entfalten. Die Insolvenzantragspflicht begründet Handlungspflichten für den Geschäftsleiter; missachtet er die Antragspflicht, drohen ihm persönlich Haftungsfolgen. Die Haftungsfolgen sind im Fremdinteresse angeordnet, nicht aber im Interesse des Mandanten. Es handelt sich materiell um eine Haftung im Interesse der Gesamtheit der Gläubiger der insolvenzreifen Gesellschaft, um die verteilungsfähige Vermögensmasse zu erhalten und eine zum Nachteil der Gesamtheit der Gläubiger gehende, bevorzugte Befriedigung einzelner Gläubiger zu verhindern.

Die Insolvenzantragspflicht und die Haftung im Fremdinteresse, welche den Drittschutz begründen, sind der maßgebliche Unterschied zu der Fallgestaltung, in der die Beratung für Entscheidungen des Mandanten Gegenstand des Mandatsvertrags ist und für den Vertreter die Gefahr besteht, auf der Grundlage der Beratung seinerseits seine gegenüber dem Mandanten bestehenden Pflichten zu verletzen. Verhält es sich so, scheiden Schutzwirkungen des Mandatsvertrags zugunsten des Vertreters im Allgemeinen aus. Die Hinweis- und Warnpflicht bei möglichem Insolvenzgrund greift nur unter engen Voraussetzungen ein. Geschuldet sind Hinweis oder Warnung erst, wenn dem Berater der mögliche Insolvenzgrund bekannt wird, dieser führend offenkundig ist oder der Insolvenzgrund sich ihm bei ordnungsgemäßer Bearbeitung des Mandats aufdrängt. Die bloße Erkennbarkeit reicht nicht aus. Ferner muss der Berater Grund zur Annahme haben, dass sich der Geschäftsleiter nicht über den möglichen Insolvenzgrund und die daraus folgenden Handlungspflichten bewusst ist. Die Hinweis- und Warnpflicht erfordert keine eigenständige Prüfung oder Ermittlung des Insolvenzgrundes.

In unserer auf das Insolvenz- und Gesellschaftsrecht spezialisierten Kanzlei stehen wir Ihnen bei der Geltendmachung und Durchsetzung von Schadensersatzverpflichtungen eines Rechtsberaters im Insolvenzverfahren kompetent zur Verfügung.


Familienrecht - BGH zur persönlichen Anhörung des Betroffenen im Verfahren zur Einrichtung einer Betreuung

Familienrecht - BGH zur persönlichen Anhörung des Betroffenen im Verfahren zur Einrichtung einer Betreuung

„Bei der persönlichen Anhörung des Betroffenen im Verfahren zur Einrichtung einer Betreuung darf das Betreuungsgericht grundsätzlich nur dann nach § 34 Abs. 3 FamFG verfahren, wenn alle zwanglosen Möglichkeiten, den Betroffenen anzuhören und sich von ihm einen persönlichen Eindruck zu verschaffen, vergeblich ausgeschöpft sind und die gemäß § 278 Abs. 5-7 FamFG zu Gebote stehende Vorführung des Betroffenen unverhältnismäßig ist.“

BGH, Beschluss vom 29.03.2023 – XII ZB 515/22

Hintergrund

Die 78-jährige Betroffene befand sich infolge einer Hirnblutung und eines Schlaganfalls in einer spastischen Tetraparese, einer spastischen Lähmung aller vier Extremitäten. Bereits im Jahr 2006 hatte sie ihrer Tochter (Beteiligte zu 1.)) und ihrem Enkel (Beteiligter zu 2.)) Vorsorgevollmachten zur jeweils alleinigen Ausübung erteilt. Bis 2021 wurde sie in häuslicher Intensivpflege 24 Stunden täglich im Haus des Enkels durch einen Pflegedienst betreut, wobei auch der Enkel Maßnahmen der Grundpflege übernahm. Am 03.08.2021 erstattete der Pflegedienst eine Strafanzeige gegen den Enkel wegen Misshandlung von Schutzbefohlenen, laut derer er lebensgefährdende Manipulationen am Beatmungsschlauch vorgenommen haben soll. Am 16.08.2021 wurde die Betroffene durch die vom Amtsgericht zur vorläufigen Betreuerin bestellt, die Beteiligte zu 3.) in eine Intensiv-Wohngemeinschaft verlegt.

Mit Beschluss vom Februar 2022 hat das Amtsgericht im Hauptsacheverfahren eine Betreuung für den Aufgabenkreis der Aufenthaltsbestimmung, der Geltendmachung von Rechten der Betreuten gegenüber ihrem / ihrer Bevollmächtigten, Gesundheitssorge, Heimangelegenheiten, Vermögenssorge und Vertretung gegenüber Behörden und Sozialversicherungsträgern eingerichtet und die Beteiligte zu 3.) als Berufsbetreuerin bestimmt. Das Landgericht hat die Beschwerden der Tochter und des Enkels der Betroffenen zurückgewiesen. Hiergegen richtet sich die Rechtsbeschwerde der Tochter zum BGH.

BGH – Rechtsbeschwerde begründet

Gemäß § 278 Abs. 1 FamFG hat das Gericht den Betroffenen vor der Bestellung eines Betreuers oder der Anordnung eines Einwilligungsvorbehalts persönlich anzuhören und sich einen persönlichen Eindruck von ihm zu verschaffen. Die Pflicht zur persönlichen Anhörung des Betroffenen besteht nach § 68 Abs. 3 S. 1 FamFG grundsätzlich auch im Beschwerdeverfahren. Zwar räumt § 68 Abs. 3 S. 2 FamFG dem Beschwerdegericht auch in einem Betreuungsverfahren die Möglichkeit ein, von einer erneuten Anhörung des Betroffenen abzusehen. Doch scheidet dies aus, wenn neue Erkenntnisse zu erwarten sind. Das ist dann der Fall, wenn das Beschwerdegericht, wie hier, für seine Entscheidung eine neue Tatsachengrundlage heranzieht.

Der BGH ist daher der Auffassung, dass das Landgericht die Betroffene persönlich hätte anhören müssen, das seine Entscheidung ausdrücklich auf das im Beschwerdeverfahren eingeholte Sachverständigengutachten gestützt hat. Das Landgericht durfte von einer persönlichen Anhörung der Betroffenen nicht mit der Begründung absehen, die Betroffene sei offensichtlich nicht in der Lage, ihren Willen kund zu tun. Zwar befindet sich die Betroffene derzeit in einem Zustand, in dem sie offensichtlich nicht in der Lage ist, ihren Willen kund zu tun. Das macht es jedoch nicht entbehrlich, sich einen persönlichen Eindruck von der Betroffenen zu verschaffen, da im erstinstanzlichen Verfahren eine Anhörung lediglich durch den ersuchten Richter und mithin keine unmittelbare Kontaktaufnahme des entscheidenden Gerichts mit der Betroffenen erfolgte. Zudem zog das Landgericht Schlüsse daraus, dass seitens des Pflegeheims regelmäßig beobachtet worden sei, wie die Betroffene auf Besuche der Tochter und deren Lebensgefährten mit Weinen reagiere. Schon aufgrund der herangezogenen Beobachtungen des Pflegeheims hätte das Landgericht nicht davon absehen dürfen, sich selbst einen Eindruck von der Betroffenen und möglichst davon zu verschaffen, wie diese auf ihre Angehörigen reagiert.

Die Entscheidung des BGH stärkt die Rechte der Betroffenen im Verfahren zur Bestellung eines Betreuers erheblich. Insoweit sind Betroffene grundsätzlich immer persönlich anzuhören.


Gesellschaftsrecht - BGH zur Möglichkeit der Ausschließungsklage in einer Zwei-Personen-GmbH

Gesellschaftsrecht - BGH zur Möglichkeit der Ausschließungsklage in einer Zwei-Personen-GmbH

„1.
Der Gesellschafter einer Zwei-Personen-GmbH kann unter den Voraussetzungen der actio pro socio die Ausschließungsklage gegen den anderen Gesellschafter erheben.

2.
Wird ein Gesellschafter wegen Vorliegens eines wichtigen Grundes ohne statuarischer Regelung durch Urteil aus der GmbH ausgeschlossen, wird die Ausschließung des betroffenen Gesellschafters bereits mit Rechtskraft des Urteils wirksam und ist nicht durch die Leistung der Abfindung bedingt.“

BGH, Versäumnisurteil vom 11.07.2023 – II ZR 116/21

 

Hintergrund

Kläger und Beklagter sind Gesellschafter einer Nebenintervenientin einer GmbH und an dieser jeweils hälftig beteiligt. Die Satzung der Nebenintervenientin enthält keine Regelung zum Ausschluss eines Gesellschafters oder zur Einziehung von Geschäftsanteilen. Das Stammkapital in Höhe von 25.000,00 € haben die Gesellschafter vollständig eingezahlt. Der Kläger hat beantragt, den Beklagten aus der Nebenintervention auszuschließen und dessen Geschäftsanteil nach Wahl des Klägers entweder gegen Zahlung einer Abfindung einzuziehen oder den Kläger für befugt zu erklären, die Abtretung des Geschäftsanteils an sich, die Gesellschaft oder einen Dritten herbeizuführen. Hilfsweise hat er beantragt, dem Beklagten unter der Bedingung auszuschließen, dass die Gesellschaft innerhalb eines Zeitraums von höchstens sechs Monaten ab Rechtskraft des Urteils an den Beklagten eine im Ermessen des Gerichts liegende Abfindung zu zahlen hat.

LG weist Klage ab

Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Die hiergegen gerichtete Berufung des Klägers und der Nebenintervenientin hat das Berufungsgericht OLG München zurückgewiesen. Dagegen richtet sich die vom Berufungsgericht zugelassene Revision des Klägers, mit der er seine Klageanträge weiterverfolgt.

OLG gibt Klage statt

Die Revision des Klägers hatte vor dem BGH Erfolg. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht. Die Entscheidung ergeht durch Versäumnisurteil, da der Beklagte in der mündlichen Verhandlung trotz rechtzeitiger Ladung zum Termin nicht ordnungsgemäß vertreten war. Sie beruht aber inhaltlich auf einer Sachprüfung.

Der BGH ist der Auffassung, dass der Kläger für die im eigenen Namen erhobene Ausschließungsklage prozessführungsbefugt ist. Prozessführungsbefugnis ist eine Prozessvoraussetzung, die in jeder Lage des Verfahrens und auch in der Revisionsinstanz vorliegen muss (vgl. BGH, Urteil vom 19.12.2017 – II ZR 255/16). Nach der Rechtsprechung des BGH ist die Ausschließungsklage grundsätzlich von der GmbH zu erheben. Ob in einer Zwei-Personen-GmbH den Gesellschaftern ein Klagerecht zur Ausschließung des jeweils anderen zusteht, konnte der BGH bisher offen lassen. So wurde überwiegend angenommen, dass in einer Zwei-Personen-GmbH jeder Gesellschafter persönlich eine Ausschließungsklage gegen den Mitgesellschafter anstreben kann.

Nach anderer Auffassung besteht kein Bedürfnis für eine vom allgemeinen Grundsatz abweichende unmittelbare Klagebefugnis des ausschließungswilligen Gesellschafters bei einer Zwei-Personen-GmbH (vgl. OLG Nürnberg, BB 1970, 1371). Da über die Erhebung der Ausschließungsklage die Gesellschafterversammlung zu befinden habe und der betroffene Gesellschafter nicht stimmberechtigt sei, bestehe ein praktisches Bedürfnis allenfalls dann, wenn der auszuschließende Gesellschafter zugleich der einzige Geschäftsführer der GmbH sei. Der Gesellschafter einer Zwei-Personen-GmbH kann unter den Voraussetzungen der actio pro socio die Ausschließungsklage erheben. So kann ein Gesellschafter einer GmbH berechtigt sein, einen Mitgesellschafter auf Leistung an die Gesellschaft in Anspruch zu nehmen, was namentlich dann in Betracht kommt, wenn dieser seine zwischen den Gesellschaftern bestehende Treuepflicht verletzt und durch eine damit verbundene Schädigung des Vermögens der Gesellschaft mittelbar auch dasjenige des klagenden Gesellschafters geschädigt hat. Die Befugnis wurzelt im Gesellschaftsverhältnis und ist Ausschluss des Mitgliedschaftsrechts des Gesellschafters. Die Übertragung der Grundsätze der actio pro socio auf die Ausschließungsklage ist gerechtfertigt. Das Recht auf Ausschließung eines Gesellschafters hat seinen materiellen Grund in der gesellschafterlichen Treuepflicht.

Als Gesellschafter einer Zwei-Personen-GmbH beraten wir Sie kompetent und zielführend, ob und wie Sie gegen den anderen Gesellschafter rechtssicher vorgehen können.


Insolvenzrecht - Anspruch des vom Insolvenzverwalter in Anspruch genommenen Geschäftsführers der Insolvenzschuldnerin auf Einsicht in die Verfahrensakten des Insolvenzverfahrens

Insolvenzrecht - Anspruch des vom Insolvenzverwalter in Anspruch genommenen Geschäftsführers der Insolvenzschuldnerin auf Einsicht in die Verfahrensakten des Insolvenzverfahrens

„1.
Der Geschäftsführer der Insolvenzschuldnerin, der sich gegen einen Anspruch aus § 64 S. 1 GmbHG a. F. verteidigen will, hat ein berechtigtes Interesse auf Einsicht in die Verfahrensakten des Insolvenzverfahrens.

2.
Im Rahmen der Ermessensentscheidung über den Auskunftsanspruch ist von der Gerichtsverwaltung das Geheimhaltungsinteresse der Verfahrensbeteiligten gegen das Informationsinteresse des Geschäftsführers abzuwägen.“

Hintergrund

In dem vom OLG zu entscheidenden Fall wurde der Geschäftsführer der Insolvenzschuldnerin vom Insolvenzverwalter vor dem Landgericht Heidelberg nach § 64 S. 1 GmbHG a. F. wegen Zahlungen in Höhe von insgesamt knapp 5,5 Mio. € in Anspruch genommen, die von dem Antragsteller als Geschäftsführer zwischen dem Zeitpunkt der Insolvenzreife im Februar 2014 und dem durch den Antragsteller im März 2014 gestellten Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens wegen drohender Zahlungsunfähigkeit vorgenommen worden seien.

Der Geschäftsführer der Schuldnerin hat bei dem Antragsgegner Einsicht in die gerichtlichen Verfahrensakten des Insolvenzverfahrens über das Vermögen der Insolvenzschuldnerin beantragt, um die von dem Insolvenzverwalter geltend gemachten Ansprüche zu überprüfen. Dem ist der Insolvenzverwalter entgegengetreten. Das Auskunftsrecht des Antragstellers beschränke sich auf die Einsichtnahme in die Buchhaltungsunterlagen des schuldnerischen Unternehmens. Diese Unterlagen seien auch zur Verfügung gestellt worden. Es fehle an einem erforderlichen rechtlichen Interesse an der begehrten Akteneinsicht.

Der Geschäftsführer der Gemeinschuldnerin hat sein rechtliches Interesse dann dahingehend konkretisiert, dass er auf die Einsicht in die Verfahrensakten des Insolvenzverfahrens angewiesen sei, um in Erfahrung zu bringen, ob der Insolvenzverwalter Zahlungen an Gläubiger, wegen derer Ansprüche aus § 64 GmbHG a. F. geltend gemacht werden, erfolgreich gemäß der §§ 129 ff. InsO angefochten habe.

OLG – Anspruch Geschäftsführer besteht

Das OLG Karlsruhe urteilte, dass dem Geschäftsführer der Gemeinschuldnerin ein Akteneinsichtsrecht aus § 4 InsO i.V.m. § 299 Abs. 2 ZPO zusteht. Eine Entscheidung über ein Akteneinsichtsgesuch eines Dritten gemäß § 299 Abs. 2 ZPO stellt einen Justizverwaltungsakt im Sinne des § 23 Abs. 1 S. 1 EGGVG dar. § 299 Abs. 2 ZPO setzt voraus, dass persönliche Rechte des Antragstellers durch den Gegenstand des Verfahrens, in dessen Akteneinsicht begehrt wird, berührt werden. Dabei muss sich das rechtliche Interesse aus der Rechtsordnung selbst ergeben und verlangt als Mindestbedingung ein auf Rechtsnormen beruhendes oder durch solche geregeltes gegenwärtiges Verhältnis einer Person zu einer anderen Person oder zu einer Sache. Danach muss das vom Einsichtsgesuch betroffene Verfahren selbst oder zumindest dessen Gegenstand für die rechtlichen Belange des Antragstellers von konkreter rechtlicher Bedeutung sein.

Nach Ansicht des OLG Karlsruhe liegen diese Voraussetzungen hier vor. Der Antragsteller begehrt Akteneinsicht, um sich gegen einen Anspruch aus § 64 S. 1 GmbHG a. F. zu verteidigen. Dieser setzt voraus, dass von der Gemeinschuldnerin nach Eintritt ihrer Zahlungsunfähigkeit oder nach Feststellung ihrer Überschuldung Zahlungen geleistet worden sind. Für die Verteidigung kommt es unter anderem maßgeblich darauf an, ob und wann Zahlungsunfähigkeit der Gemeinschuldnerin eingetreten ist. Eben diese Zahlungsunfähigkeit ist aber Gegenstand des Insolvenzverfahrens.

OLG Karlsruhe, Beschluss vom 01.04.2023 – 24 VA 4/22

In unserer interdisziplinären Kanzlei beraten wir insbesondere Geschäftsführer im Umgang mit einer drohenden Zahlungsunfähigkeit oder während eines bestehenden Insolvenzverfahrens.


Insolvenzrecht - Überschuldung bei kurzem rechnerischen Negativsaldo und Verlustdeckungszusage

Insolvenzrecht - Überschuldung bei kurzem rechnerischen Negativsaldo und Verlustdeckungszusage

„1.
Überschuldung liegt vor, wenn das Vermögen eines Unternehmens nicht mehr die bestehenden Verbindlichkeiten deckt, es sei denn, die Fortführung des Unternehmens ist nach den Umständen überwiegend wahrscheinlich. Dabei sind nicht die fortgeschriebenen Wertansätze der Jahresbilanz als entscheidend zugrunde zu legen, sondern eine Überschuldungsbilanz hat nach eigenen, auf den Zweck der Insolvenzeröffnung zugeschnittenen Bewertungsgrundsätzen, den wahren Wert des Unternehmens zu ermitteln. Legt der Insolvenzverwalter nur eine Handelsbilanz vor, aus der sich ein nicht durch Eigenkapital gedeckter Fehlbetrag ergibt, hat er jedenfalls die Ansätze dieser Bilanz darauf zu überprüfen und zu erläutern, ob und gegebenenfalls in welchem Umfang stille Reserven oder sonstige aus ihr nicht ersichtliche Vermögenswerte vorhanden sind.

2.
Eine Überschuldung ist nicht anzunehmen, wenn eine tatsächliche rechnerische Überschuldung zwar am Bilanzstichtag am Jahresende vorliegt, jedoch zu Beginn des neuen Jahres der Minusbetrag durch eine Zahlung wieder ausgeglichen wird. Denn eine Überschuldung liegt bei einem nur für wenige Tage bestehenden Negativsaldo nicht vor. Bei einer Überschuldung muss es sich um einen zumindest für sechs Wochen andauernden Zustand handeln.

3.
Gegen die Annahme einer Überschuldung spricht auch eine Verlustdeckungszusage des Mutterkonzerns. Eine Pflicht zur Verlustübernahme ergibt sich auch aus einer aus Kontoauszügen hervorgehenden finanziellen Verstrickung an einer sonstigen Abhängigkeit von Schwester und Mutterunternehmen, sodass es sich um einen faktischen Konzern handelt.“

OLG Schleswig-Holstein, Urteil vom 29.09.2021 – 9 U 11/21

Hintergrund

Der Kläger ist Insolvenzverwalter über das Vermögen der A-GmbH. Er nimmt den Beklagten aus Geschäftsführerhaftung wegen Zahlungen nach Insolvenzreife in Anspruch. Erstinstanzlich hat der Kläger den Beklagten teilweise gesamtschuldnerisch auf Zahlung von insgesamt 720.758,17 € in Anspruch genommen. Das LG hat die Klage abgewiesen. Der Beklagte war faktischer und ab dem 25.01.2010 auch eingetragener Geschäftsführer der Schuldnerin, die auf ihrem im Eigentum der BRD stehenden, von der Firma C-GmbH angemieteten Geschäftsgrundstück einen Handel mit Paraffin betrieb. Für die Lagerung des flüssigen Paraffins in den Tanks war dessen vorherige Erhitzung erforderlich. Die Schuldnerin war Teil eines Konzerns, der neben ihr aus der Muttergesellschaft A-Holding AG und der Schwestergesellschaft A. C. AG, beide mit Sitz in der Schweiz, bestand. Die A-Holding AG war alleinige Gesellschafterin der Schuldnerin und der A. C. AG. Der Beklagte war Präsident des Verwaltungsrates sowohl der A. C. AG als auch der A-Holding AG und war zu 54 % am Kapital der A-Holding AG beteiligt.

In der Nacht vom 11.06.2009 auf den 12.06.2009 zerstörte ein Großbrand den gesamten Betrieb der Schuldnerin. Die Schuldnerin unterhielt bei der D Versicherungs AG unter anderem eine Betriebshaftpflichtversicherung mit einer Höchstdeckungssumme von 2,5 Million €. Die Versicherung lehnte die Erteilung einer Deckungszusage ab, da seit dem Jahr 2006 als Risiko lediglich die Abwicklung des Handels mit Paraffin zur Kerzenproduktion versichert sei, sich bei dem Brand jedoch das Risiko eines Produktions- oder Veredelungsbetriebs nicht eines Handelsbetriebs verwirklicht habe. Die Schuldnerin nahm nach dem Brand ihren Betrieb nicht wieder auf. Auf den Antrag des Beklagten vom August 2010 wurde im November 2010 über das Vermögen der Schuldnerin das Insolvenzverfahren eröffnet. Der Kläger hat behauptet, die Schuldnerin sei bereits im Jahr 2008, spätestens aber seit dem Brandereignis im Jahr 2009 überschuldet gewesen. Der Beklagte hat behauptet, die BRD und die Firma C hätten bis zur Stellung des Insolvenzantrags keine konkreten Forderungen wegen der Brandschäden an die Schuldnerin herangetragen. Im Übrigen sei das Risiko durch die Versicherung der Firma C abgedeckt gewesen.

LG weist Klage ab

Das LG hat die auf Zahlung gerichtete Klage abgewiesen, da der Kläger weder die Überschuldung noch eine Zahlung der Schuldnerin zur Überzeugung des Gerichts habe darlegen und beweisen können. Insbesondere sei das Indiz der rechnerischen Überschuldung aufgrund der Fehlbeträge in den Jahren 2008 und 2009 durch die konzerninterne Verlust-Deckungszusage der A-Holding AG gegenüber der Schuldnerin widerlegt. Auch das Brandereignis habe nicht zu einer Überschuldung geführt, da nicht feststellbar sei, dass der BRD durch den Brand tatsächlich Schäden von über 2,5 Million € entstanden wären und Schäden bis zu dieser Höhe von der Versicherung der Schuldnerin gedeckt gewesen seien.

OLG bestätigt Urteil des LG

Nach Ansicht des OLG hat das LG die geltend gemachten Ansprüche des Klägers gegen den Beklagten aus Geschäftsführerhaftung zurecht zurückgewiesen. Dem Kläger stehen als Insolvenzverwalter über das Vermögen der Schuldnerin keine Ersatzansprüche gegen den Beklagten aus Geschäftsführerhaftung nach § 64 S. 1 GmbHG a. F. u. Eine Ersatzpflicht des Beklagten für von ihm veranlasste Zahlungen kommt nach § 64 S. 1 GmbHG in Betracht, wenn diese nach Eintritt der Zahlungsunfähigkeit der Gesellschaft oder nach Feststellung ihrer Überschuldung geleistet wurden, ohne dass die Zahlungen mit der Sorgfalt eines ordentlichen Geschäftsmanns vereinbar wären.

Anhaltspunkte für eine Zahlungsunfähigkeit der Schuldnerin zum Zeitpunkt der streitgegenständlichen Zahlungen wurden vom LG zu Recht verneint. Eine Überschuldung ist also bei kurzem rechnerischen Negativsaldo und Verlustdeckungsanzeige noch nicht gegeben.

Als Geschäftsführer einer GmbH ist es immens wichtig, die Zeichen einer sich anbahnenden finanziellen Krise zu erkennen und umgehend Gegenmaßnahmen einzuleiten.


Insolvenzrecht - Schadensersatzpflicht des Unternehmensberaters gegenüber dem Geschäftsführer der beauftragenden GmbH wegen Pflichtverletzung bei Sanierungsbegutachtung

Insolvenzrecht - Schadensersatzpflicht des Unternehmensberaters gegenüber dem Geschäftsführer der beauftragenden GmbH wegen Pflichtverletzung bei Sanierungsbegutachtung

Im Rahmen einer Sanierungsbegutachtung nach IDWS6-Standard gehört es zu den Kernanforderungen an den Gutachter, in einer Form auf eine eingetretene Zahlungsunfähigkeit hinzuweisen, die geeignet ist, die verantwortlichen Personen zur Einleitung der insolvenzrechtlich erforderlichen Eilmaßnahmen anzuhalten. Ein Verweis des Gutachters auf die Nichterbringung von Rechts- und Steuerberaterleistungen, weil der beauftragte Gutachter weder Rechtsanwalt noch Steuerberater oder Wirtschaftsprüfer ist, befreit diesen nicht von den zur Erfüllung der Pflicht nach IDWS6 zu treffenden Feststellungen zur Zahlungsunfähigkeit und Überschuldung. Der Geschäftsführer kommt aufgrund § 64 Abs. 1 GmbHG a. F. mit der Frage der Insolvenzreife der GmbH in gleicher Weise in Berührung wie die GmbH als Auftraggeber selbst, weshalb der Begutachtungsvertrag nach IDWS6-Standard Schutzwirkung zugunsten des Geschäftsführers entfaltet.

OLG Bamberg, Urteil vom 31.07.2023 – 2 U 38/22.

 

Hintergrund

Die Parteien streiten über Ansprüche wegen Pflichtverletzung aus einem Sanierungsberatervertrag. Der Kläger ist Insolvenzverwalter über das Vermögen der B-GmbH. Diese gehörte zusammen mit der X-GmbH und der Y-GmbH zur X-Firmengruppe. Geschäftsführer der B war Herr H. Der Beklagte ist Insolvenzverwalter über das Vermögen der D-GmbH. Diese beriet kleine und mittlere Unternehmen in Krisensituationen. Im Frühjahr 2013 befand sich die X in wirtschaftlichen Schwierigkeiten. Auf Initiative eines Kreditgebers sollten die wirtschaftlichen Fortführungsmöglichkeiten der X durch eine externe Begutachtung festgestellt werden. Hierzu legte die D im April 2013 zunächst eine Projektskizze vor betreffend die Erstellung eines Sanierungsgutachtens in Anlehnung an den IDWS6-Standard. Auf der letzten Seite der Projektskizze befindet sich unmittelbar über den Unterschriften folgende Bestimmung:

„Die D erbringt keine Rechts- oder Steuerberatungs- oder Wirtschaftsprüfungsleistungen. Sie wird alles unternehmen, um die beschriebenen Aufgaben erfolgreich zu erfüllen und haftet für vorsätzliche und grobe Fahrlässigkeit ihrer Berater für Vermögensschäden bis zu einer Höhe von 1 Million €. Die D verpflichtet sich, alle Informationen über den Auftraggeber und dessen Unternehmen, von denen die Berater im Rahmen des Projekts Kenntnis erhalten, streng vertraulich zu behandeln.“

Die B-GmbH beauftragte die D daraufhin am 06.05.2013 mit der Erstellung eines Sanierungsgutachtens entsprechend dem in der Projektskizze vom 25.04.2013 beschriebenen Auftragsumfang. Aufgrund des Eigenantrags der B vom 13.03.2014 wurde mit Beschluss des Amtsgerichts Insolvenzgericht Neubrandenburg vom 16.04.2014 nichtsdestotrotz das Insolvenzverfahren über das Vermögen der B eröffnet und der Kläger zum Insolvenzverwalter bestellt. Der Kläger war der Auffassung, dass der Geschäftsführer H gemäß § 64 S. 1 GmbHG a. F. zum Ersatz masseschmälernder Zahlungen verpflichtet sei, welche die B in den Monaten Januar und Februar 2014 geleistet habe, da die Gesellschaft zu diesem Zeitpunkt bereits zahlungsunfähig gewesen sei. Die D habe es versäumt, auf die Insolvenzreife der B hinzuweisen, obwohl sie hierzu bei einem Sanierungsgutachtens nach IDWS6-Standard verpflichtet gewesen sei. Der Vertrag über das Sanierungsgutachten entfaltet Schutzwirkung zugunsten des Geschäftsführers, der über § 64 GmbHG a. F. von der zu prüfenden Insolvenzreife in gleicher Weise betroffen sei wie die Gesellschaft selbst.

LG weist Klage ab

Mit am 19.07.2022 verkündetem Endurteil hat das LG die Klage abgewiesen. In der Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, dass es bereits an einer Einbeziehung des Geschäftsführers H in den Schutzbereich des zwischen der D und der B geschlossenen Beratungsvertrages fehle. Die vertraglich geschuldete Fortbestehens- und Fortführungsprognose habe allein den wirtschaftlichen Interessen der B gedient.

OLG – Kläger steht 50 %iger Zahlungsanspruch zu

Das OLG urteilte, dass die zulässige Berufung teilweise begründet ist. Dem Kläger steht aus abgetretenem Recht unter Berücksichtigung eines Anspruchs kürzenden Mitverschuldens des Geschäftsführers der B von 50 % ein Zahlungsanspruch gemäß der §§ 280 Abs. 1, 611, 675, 398 BGB zu. Mit dem zwischen der B und der D mit Auftragserteilung vom 06.05.2013 geschlossenen Sanierungsberatungsvertrag wurde das vollständige Leistungsspektrum nach dem Standard IDWS6 beauftragt. Eine hiervon abweichende und abschließende Vereinbarung durch die D zu erbringender Leistungen besteht nicht. Grundlage des Vertrages war die Projektskizze aus dem April 2013. In der Überschrift der Projektskizze ist angeführt, dass die Fertigung des Gutachtens in Anlehnung an den IDWS6-Standard erfolgt. Insoweit ist durch den Sanierungsgutachter der Hinweis auf eine eingetretene Zahlungsunfähigkeit in einer Form geschuldet, die es dem Auftraggeber ermöglicht, die gebotenen rechtlichen Konsequenzen zu ziehen. Der Sanierungsgutachter hat danach den Eintritt der Insolvenzreife im Zeitraum bis zur Fertigstellung des Gutachtens auszuschließen. Für den Gutachter selbst gilt, dass er die Begutachtung zu beenden oder zu versagen hat, sobald für ihn erkennbar wird, dass eine Insolvenzantragspflicht bereits vorliegt und dennoch eine außergerichtliche Sanierung noch versucht werden soll.

Eine Pflichtverletzung gemäß § 280 Abs. 1 BGB der D ist gegeben. Sie hat nicht in der vertraglich geschuldeten Form auf eine bei Vorlage des Gutachtens am 29.07.2013 bereits eingetretene Zahlungsunfähigkeit der B hingewiesen. Der Vertrag zwischen der B und der D über die Erbringung von Leistungen der Sanierungsberatung entfaltet Schutzwirkung zugunsten des Geschäftsführers der B. Gegen den Geschäftsführer der B bestehen daher aufgrund masseschmälernder Leistungen gemäß § 64 Abs. 2 GmbHG a. F. die geltend gemachten Ansprüche. Die im unterlassenen Hinweis auf die Zahlungsunfähigkeit begründete Pflichtverletzung der D war auch kausal für den eingetretenen Schaden.

Die Entscheidung des OLG Bamberg konkretisiert die Pflichten von Unternehmensberatern im Rahmen einer Sanierungsbegutachtung. Kernanforderungen an den Gutachter sind insbesondere in einer Form auf eine eingetretene Zahlungsunfähigkeit hinzuweisen, die geeignet ist, die verantwortlichen Personen zur Einleitung der insolvenzrechtlich erforderlichen Maßnahmen anzuhalten.


Insolvenz verschiedener Gesellschaften der Immobilien Project Gruppe - Bauträgerinsolvenz

Insolvenz verschiedener Gesellschaften der Immobilien Project Gruppe - Bauträgerinsolvenz

1.
Mehrere Gesellschaften Immobilien Project Gruppe haben im August 2023 Insolvenz angemeldet.

Unter anderem handelt es sich hierbei um die Project Real Estate AG, die Project Immobilien Projektentwicklungs GmbH (PEG), die Project Immobilien Wohnen und Gewerbe GmbH (PWG), und die Project Immobilien Management GmbH (PMG).

Darüber hinaus liegt auch ein Insolvenzantrag der Project Real Estate Institution GmbH und der Project Vermittlungs GmbH vor.

Für sämtliche der vorgenannten Gesellschaften der Project Gruppe wurden vorläufige Insolvenzverwalter bestellt. Diese verschaffen sich seit der Insolvenzantragsstellung einen Überblick über die betroffenen Sachverhalte, insbesondere über die betroffenen Bauprojekte etc.

Die ersten Betroffenen erhielten auch bereits ein Schreiben der mit der vorläufigen Insolvenzverwaltung beauftragten Schultze & Braun Rechtsanwaltsgesellschaft für Insolvenzverwaltung mbH nebst der Mitteilung, der Sachverhalt werde derzeit geprüft.

2.
In der Zwischenzeit haben auch 56 der 118 Projektgesellschaften einen Insolvenzantrag gestellt.

Bei 33 dieser Projektgesellschaften sind die Bauprojekte noch nicht (final) abgeschlossen. Gemäß der Pressemitteilung der Schultze & Braun Rechtsanwaltsgesellschaft für Insolvenzverwaltung mbH handelt es sich hierbei um die Folgenden (Stand 31.08.2023):

PROJECT PG Am Borsigturm 74 Berlin GmbH & Co. KG – „MACHWERK74“
PROJECT PW Albrechtstraße 87 Berlin GmbH & Co. KG – „DAS ALBRECHT“
PROJECT PW Berner Str. 9 Berlin GmbH & Co. KG – „Schweizer Park Wohnen“
PROJECT PW Bilker Allee 233 Düsseldorf GmbH & Co. KG – „Das Bilkster Wohnen“
PROJECT PW Brückenstr. Hohen Neuendorf GmbH & Co. KG – „Bergfelde Living“
PROJECT PW Bleichertwiete 10-16 Hamburg GmbH & Co.KG – „Die Bleichertwiete“
PROJECT PW Baruther Str. 5 Berlin GmbH & Co. KG – „Kreuzberg No. 5“
PROJECT PW Eschollbrücker Str. 12 Darmstadt GmbH & Co. KG – „HERZOGHÖFE“
PROJECT PW Euckenstr. 27 München GmbH & Co. KG
PROJECT PW Frankenallee 98-102 Frankfurt GmbH & Co. KG
PROJECT PW Goslarer Ufer 1-5 Berlin GmbH & Co. KG
PROJECT PW Hanauer Landstr. 57 Frankfurt GmbH & Co. KG – „FIFTYSEVEN“
PROJECT PW Hauptstraße 80-81 Berlin GmbH & Co. KG
PROJECT PW Hönower Straße 4-7 Berlin GmbH & Co. KG – „KARL IM GLÜCK“
PROJECT PW Haydnstraße 11 Hamburg GmbH & Co. KG – „BAHRENGOLD“
PROJECT PW Maximilianstr. 43 Nürnberg GmbH & Co. KG – „MAX.life“
PROJECT PG Am Mühlenberg Potsdam GmbH & Co. KG – „H-LAB“
PROJECT PW Mahlsdorfer Str. 7-8 Berlin GmbH & Co. KG – „Copenic 7“
PROJECT PW Ostendstraße 161 Nürnberg GmbH & Co. KG – „EAST SIDE“
PROJECT PW Provinzstr. 67/68 Berlin GmbH & Co. KG – „MEIN PANKOW“
PROJECT PW Rudower Chaussee 34 Berlin GmbH & Co. KG – „RC34“
PROJECT PW Rembrandtstraße 20-21 Berlin GmbH & Co. KG – „Studio Living Berlin B.3“
PROJECT PW Rahlstedter Str. 169 Hamburg GmbH & Co. KG – „MITTE RAHLSTEDT“
PROJECT PW Rosenthaler Weg 50, 54 Berlin GmbH & Co. KG – „Vive la Rose“
PROJECT PW Segeberger Chaussee 124, 126 Norderstedt GmbH & Co. KG – „NORDER LIVING“
PROJECT PW Schleißheimer Str. 321 München GmbH & Co. KG – „Das Bertholds“
PROJECT PW Sellhopsweg 3-11 Hamburg GmbH & Co. KG – „SellhopsGärten“
PROJECT PW Semmelweisstr. 41-47 Berlin GmbH & Co. KG – „Parkquartier Altglienicke“
PROJECT PW Sundgauer Str. Berlin GmbH & Co. KG
PROJECT PW Schillerpromenade 2 Hohen Neudorf GmbH & Co. KG- „Schiller & Havel“
PROJECT PG Tempelhofer Damm 156 Berlin GmbH & Co. KG – „Cubus 156“
PROJECT PW Varziner Str. 16/17 Berlin GmbH & Co. KG – „Maison VIKTORIA“
PROJECT PW Wiesenstraße 11 Berlin GmbH & Co. KG – „Studio Living Berlin B.2“

2.
Gleichwohl der noch andauernden Prüfung der vorläufigen Insolvenzverwalter über die weitere Vorgehensweise und der komplexen Sachverhalte fragen sich selbstverständlich alle Betroffenen wie es nun weiter geht.

Die Bauprojekte stehen derzeit still. Die Finanzierungsdarlehen der Betroffenen haben allerdings zum großen Teil bereits zu laufen begonnen und laufen uneingeschränkt weiter.

Das voranstehende Ziel: Die größtmögliche Schadensbegrenzung.

Die weitere Vorgehensweise und ob die noch nicht fertig gestellten Bauprojekte der Project Immobilien Gruppe fertig gestellt werden (können) hängt zunächst davon ab,

– ob über das Vermögen der jeweiligen Gesellschaften tatsächlich ein Insolvenzverfahren eröffnet wird,
– welche tatsächlichen finanziellen Situationen bei den jeweiligen Gesellschaften vorliegen,
– inwieweit die einzelnen Bauvorhaben bereits fortgeschritten sind und
– ob der Insolvenzverwalter die Erfüllung oder Nichterfüllung des Vertrages wählt (§ 103 InsO).

Wählt der Insolvenzverwalter die Nichterfüllung des Vertrages, so sind die (Schadenersatz)Ansprüche der jeweiligen Betroffenen aufgrund der Nichterfüllung der werkvertraglichen Leistung (der weiteren Herstellung des Werkes) sowie die Schadenersatzforderungen aufgrund erfolgter Überzahlung zur Insolvenztabelle anzumelden. Sollte zu diesem Zeitpunkt zudem bereits eine sogenannte Auflassungsvormerkung im Grundbuch eingetragen sein, so hat der Erwerber auch einen Anspruch auf Übereignung des Objekts zum Zeitpunkt der Insolvenzeröffnung.

Sollte der Insolvenzverwalter die Erfüllung des Vertrages wählen, so verbleibt es bei den bisherigen vertraglichen Verpflichtungen und Regelungen der Vertragsparteien. Die Verpflichtungen der Insolvenzschuldnerin aus dem Bauträgervertrag sowie die Gewährleistungsansprüche stellen sich dann als sogenannte Masseverbindlichkeiten i.S.d. § 55 InsO dar.

Dies vorab stellen sich weiterhin rechtlichen Fragen im Hinblick auf die bestehenden Darlehensverträge mit den finanzierenden Banken sowie deren Fortlauf.

Darüber hinaus sind die sich aus dem Vertrag ergebenden Kündigungsmöglichkeiten und deren Konsequenzen – beispielhaft der Verlust der Wirkung der Auflassungsvormerkung – zu prüfen, sollte dies von den Betroffenen in Erwägung gezogen werden.

3.
Aufgrund der unterschiedlich betroffenen Gesellschaften, der verschiedenen Bauträger- sowie Darlehensverträge, dem unterschiedlichen Baufortschritt sowie finanziellen Gegebenheiten, empfiehlt sich stets eine Einzelfallbetrachtung und – abwägung, um Ihre Interessen vollumfänglich wahrnehmen zu können.

Bei Fragen rund um die Folgen der Insolvenz der Project Immobilien Gruppe sowie der rechtlichen Durchsetzung der Ihnen in diesem Zusammenhang bestehenden Ansprüche etc., stehen wir Ihnen als auf das Insolvenzrecht spezialisierte Kanzlei jederzeit gerne zur Verfügung.

Abschließend dürfen darauf hinweisen, dass der vorgenannte Blogeintrag lediglich einen Abriss der rechtlichen Thematik und Problematik darstellt.


Neue Chance für Dieselfahrer – Kehrtwende des BGH

Neue Chance für Dieselfahrer – Kehrtwende des BGH

Die Karlsruher Richter entschieden, dass Thermofenster in Dieselmotoren eine illegale Abschalteinrichtung sind. Geschädigte können nun Schadensersatz wegen Fahrlässigkeit und nicht nur aus vorsätzlicher sittenwidriger Täuschung geltend machen.

Nach fast acht Jahren nach dem Bekanntwerden des Dieselskandals hat der BGH nun die Hürden für Schadensersatzansprüche erheblich gesenkt. So reicht es im Zusammenhang mit dem so genannten Thermofenster bereits aus, dass der Autohersteller fahrlässig handelt und nicht, wie bisher vorausgesetzt, vorsätzlich sittenwidrig. Dies stellt eine erhebliche Kehrtwende des BGH in seiner äußerst restriktiven Rechtsprechung in den Dieselfällen dar. Bisher gestand er den Käufern nur bei vorsätzlicher und sittenwidriger Schädigung einen Ausgleich zu, also etwa bei einer Manipulation des Motors durch eine Betrugssoftware, die den Prüfstandsbetrieb erkennen und den Schadstoffausgleich gezielt herunterriegeln konnte. Davon gingen die Gerichte bisher nur beim VW-Motor EA189 aus, nicht aber bei dem in vielen Modellen eingebauten Thermofenstern. In solchen in vielen Varianten existierenden Thermofenstern dienen meist dem Schutz des Motors. Bei bestimmten Außentemperaturen schalten sie die Abgasreinigung aus.

Auslöser der Kehrtwende war ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom Frühjahr, der eindringlich gemahnt hatte, dass die nationalen Rechtsvorschriften es nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren dürfen, für den dem Käufer entstandenen Schaden einen angemessenen Ersatz zu erhalten. So stufte der EuGH die EU-Regeln zur Typengenehmigung als Schutzgesetz zu Gunsten der Käufer ein und nicht als eine lediglich allgemein verbindliche Regel. Bei der Verletzung solcher Schutzgesetze genügt für einen Schadensersatzanspruch nach deutschem Recht bereits das fahrlässige Handeln der Hersteller, was es den Käufern sehr viel leichter machen dürfte, Schadensersatz durchzuziehen, als nach den bisher geltenden, auf Vorsatz pochenden Vorgaben der Karlsruher Richter. Der Anspruch auf Schadensersatz kann nun leichter begründet werden. Ein Automatismus ist aber natürlich nicht geschaffen worden. Angesichts der Vielzahl technischer Varianten dürfte nun vor den unteren Instanzen vor allem darüber gestritten werden, ob das jeweilige Thermofenster wirklich eine illegale Abschalteinrichtung ist oder nicht.

Der EuGH hatte bereits im vergangenen Jahr auch hier eine verbraucherfreundliche Linie vorgegeben. Grundsätzlich seien Thermofenster als illegale Abschalteinrichtungen einzustufen. Das gelte insbesondere dann, wenn sie die Abgasrückführung bereits bei in Europa üblichen Temperaturen von unter 15°C herunterregelten. Daran ändere der Umstand nichts, dass dadurch Anbauteile wie das Abgasrückführventil und der Dieselpartikelfilter geschont würden. Nur wenn das Thermofenster ausschließlich zur Vermeidung gravierender Motorschäden oder Unfallgefahren diene, könnte es zulässig sein.

Nach dem Urteil des BGH können viele Käufer auf Schadensersatz hoffen. Einen Anspruch auf Schadensersatz besteht laut den Karlsruher Richtern in Höhe von mindestens 5 und höchstens 15 % des Kaufpreises. Anrechenbar sind allerdings die Nutzungsvorteile, also die gefahrenen Kilometer. Immerhin hat der BGH noch einmal deutlich gemacht, dass die Annahme eines unvermeidbaren Verbotsirrtums nur unter strengen Voraussetzungen möglich ist und die Autohersteller ihren fehlenden Vorsatz und die fehlende Fahrlässigkeit darlegen und beweisen müssen. Es bleibt spannend, wie sich nun die weiteren unterinstanzlichen Gerichte zum Thema Verbotsirrtum positionieren werden. Von einer Rechtssicherheit ist man also noch weit entfernt. Von dem her ist auch das übermäßige Werben mit den neuen Möglichkeiten eher als Werbestrategie statt als realistische Darstellung von Erfolgschancen einzuordnen. Andererseits zeigen sich auch die Autohersteller, etwa die VW-Anwälte, in gewohnter Manier realitätsblind. Dort hält man trotz klar gegenläufiger Rechtsprechung sogar weiterhin an dem Standpunkt fest, dass Thermofenster legal seien.

Der Dieselskandal geht also in die nächste Runde.

Mit unserer langjährigen Erfahrung auf dem Gebiet des Abgasskandals stehen wir Ihnen bei sämtlichen Fragen kompetent zur Verfügung.