Diesel-Skandal - EuGH bejaht Klagebefugnis der deutschen Umwelthilfe - Millionen Dieselautos droht Stilllegung wegen Thermo-Fenster
Die deutsche Umwelthilfe darf gegen das Kraftfahrtbundesamt (KBA) vor Gericht ziehen, da Dieselautos, die die Abgasgrenzwerte zum Gesundheitsschutz um ein Vielfaches überschreiten, gleichwohl auf den Straßen fahren lässt. Konkret entschied die große Kammer des europäischen Gerichtshofs, dass Umweltvereinigungen gegen EG-Typengenehmigungen von Dieselautos vor Gericht ziehen können (Urteil vom 08.11.2022, RS C-873/19). Des Weiteren stellte der EuGH nochmals klar, dass Thermo-Fenster also temperaturgesteuerte Abschalteinrichtungen in Dieselautos stets illegal sind.
Dem Urteil gingen Klagen der deutschen Umwelthilfe voraus. Das KBA hatte Thermo-Fenster in den Softwareupdates in Freigabebescheiden für rechtmäßig erachtet. Dies auch in Fällen, in denen bei völlig üblichen Temperaturen die Abgasreinigung zurück geregelt wird, womit Grenzwerte für saubere Luft um ein Vielfaches überschritten und die Gesundheit der Bevölkerung gefährdet wird.
Betroffen sind unter anderem Euro-5-Fahrzeuge von Volkswagen, Audi, Porsche, Seat und Daimler. Aber auch ausländische Modelle verwenden derartige Abschalteinrichtungen. Das KBA sowie das Bundesverkehrsministerium halten bis heute daran fest, dass die Thermo-Fenster legal sein.
Die deutsche Umwelthilfe erhob gegen die Genehmigungen des KBA Klage beim schleswig-holsteinischen Verwaltungsgericht. Das VG entschied in einer früheren Entscheidung aus dem Jahr 2017, dass es der DHU an der Klagebefugnis zur Anfechtung von Entscheidungen des KBAs fehle (Urteil vom 13.12.2017, Az.: 2 A26/17). Sie sei nämlich nicht in ihren eigenen Rechten im Sinne des § 42 Abs. 2 VwGO verletzt. Auch eine Klagebefugnis über das Umweltrechtsberatungsgesetz komme nicht in Betracht, da dort Umweltverbänden keine Klagebefugnisse gegen Produktzulassungen zugesprochen werde.
Diese fehlende Klagebefugnis wollte die Bundesregierung für sich nutzen. Sie wollte zum Schutz der Automobilhersteller vereiteln, dass die deutsche Umwelthilfe EG-Typengenehmigung oder Freigabebescheide anfechten kann. So verlangte der damalige Staatssekretär im Bundesverkehrsministerium Rainer Bomber von der CDU kurz nach dem Bekanntwerden des Diesel-Skandals in einem Schreiben an das Bundesumweltministerium, dass Umweltverbänden keine Klagebefugnis für die Überprüfung von Produktzulassungen eingeräumt wird. Wörtlich hieß es: „Diese Klarstellung ist für das BMVI mit Blick auf die Typ-Prüfgenehmigungen des KBA für KFZ bedeutsam.“ So die Recherchen des ZDF in der bekannten
TV-Sendung Frontal 21.
So wurde das Umweltrechtsberatungsgesetz im August 2017 novelliert, eine Klagebefugnis für Produktzulassungen wurde nicht aufgenommen.
Aufgrund dieses Hintergrundes um die Klagebefugnis sah sich das Verwaltungsgericht auch für eine analoge Anwendung der Vorschriften zur Klagebefugnis bei ortsfesten Anlagen, in der eine Klagebefugnis für Umweltverbände statuiert ist, außerstande. Dies käme wegen des entgegenstehenden Willens des Gesetzgebers nicht in Betracht. Aufgrund nach dem Urteil ergangener EuGH-Rechtsprechung (Urteil vom 20.12.2017 – C-6/664/15) zweifelte das VG allerdings im neuen Verfahren an seiner alten Rechtsprechung. Es legte dem EuGH in einem Präzedenzfall zu einem VW Golf Plus TDI mit einem Typ Dieselmotor des Typs EA 189 Fragen vor.
Mit Beschluss vom 22.11.2019 wollte das VG vom EuGH wissen, ob die deutsche Umwelthilfe auch Freigabebescheide von nationalen Gerichten anfechten kann, da sich eine Klagebefugnis unmittelbar aus Unionsrecht ergebe. Zudem fragte das VG den EuGH, ob sich die Zulässigkeit von Abschalteinrichtungen wie des Thermo-Fensters nach dem Stand der Technik zum Zeitpunkt der Genehmigung richtet oder ob andere Umstände hinzuzuziehen sind.
Nachdem der Generalanwalt des EuGHs im März bereits beide Fragen im Sinne der deutschen Umwelthilfe bejahte, schloss sich der EuGH nun dieser Ansicht an.
Er entschied, dass sich aus dem Arhus-Übereinkommen in Verbindung mit der Charta der Europäischen Union ergebe, dass eine anerkannte Umweltvereinigung klagebefugt ist, um gegen Freigabebescheide von Abschalteinrichtungen vorzugehen. Die völkerrechtliche Arhus-Konvention wurde im Jahr 1998 von 47 Staaten (darunter alle EU-Mitglieder) unterzeichnet. In der seit dem 30.10.2001 geltenden Konvention der Wirtschaftskommission für Europa einigten sich die Unterzeichnerstaaten über Rechte über den Zugang zu Informationen, die Öffentlichkeitsbeteiligung an den Entscheidungsverfahren und den Zugang zu Gerichten in Umweltangelegenheiten.
Sofern deutsches Recht der Klagebefugnis entgegenstehe, müsse es unangewendet bleiben mit der Folge, dass Art. 47 der Charta zur Geltung komme. Die Vorschrift verpflichtet Mitgliedstaaten dazu, effektive Rechtsschutzmöglichkeiten zu ermöglichen. Diese Pflicht bestehe in Verbindung mit Art. 9 Abs. 3 der Arhus -Konvention auch im Bereich des Umweltrechts. Das dort statuierte Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf entfalte von sich heraus Wirkungen und müsse nicht durch Bestimmungen des Unionsrechts oder des nationalen Rechts konkretisiert werden, um dem Einzelnen ein Klagebefugnis zu verleihen.
Das VG Schleswig muss also entweder versuchen, das deutsche Recht so auszulegen, dass die Klagebefugnis der deutschen Umwelthilfe bejaht wird, oder eben das deutsche Recht unangewendet lassen, mit der Folge, dass sich die Klagebefugnis direkt aus dem Unionsrecht (Artikel 47 Grundrechtscharta) in Verbindung mit der Arhus-Konvention (Art. 9 Abs. 3) ergibt.
Des Weiteren stellte der EuGH nochmals klar, dass für die Frage der Rechtmäßigkeit einer Abschalteinrichtung auf den Stand der Technik abzustellen ist. Die Automobilhersteller können sich also nicht damit herausreden, dass das hergestellte Auto die Abgasreinigung bei in Europa völlig üblichen Temperaturen ausschalten muss, um nicht kaputtzugehen, wenn zum Zeitpunkt der Herstellung bessere Technik zur Verfügung stand, also eine Technik, die eine funktionierende Abgasreinigung ohne Beschädigungsgefährdungen auch bei niedrigeren Temperaturen ermöglicht.
Nach den Vorstellungen der deutschen Umwelthilfe sollen die Hersteller Autos mit Hardware nachrüsten, um eine tatsächlich gut funktionierende Abgasreinigung zu ermöglichen. In diesem Zusammenhang strebt die deutsche Umwelthilfe auf weitere gerichtliche Schritte an.
So soll das KBA im Rahmen seiner Marktüberwachungspflicht auch gegen ausländische Hersteller mit illegaler Abschalteinrichtung vorgehen. Sofern keine Nachrüstung erfolgt, müssten nach Ansicht der deutschen Umwelthilfe 5 Millionen Fahrzeuge stillgelegt und die Halter entschädigt werden.
Zivilrechtlich hat der BGB mehrfach entschieden, dass zwar die Prüfstandserkennung von VW, nicht aber das Thermo-Fenster eine sittenwidrige Schädigung darstellt. Entsprechend enttäuschend waren die zahlreichen Klagen der Verbraucher auf Schadensersatz. Allerdings könnte hier der EuGH deutsche Gerichte bald zum Umdenken zwingen. In einem Verfahren sieht der Generalanwalt bereits eine Verpflichtung zum Schadensersatz wegen Verletzung eines Schutzgesetzes nach § 823 Abs. 2 BGB. Folgt der EuGH auch dieser Ansicht des Generalanwalts müssen Autohersteller nicht mehr vorsätzlich sittenwidrig gehandelt haben, sondern nur fahrlässig, um schadensersatzpflichtig zu werden. Gerade vor dem Hintergrund der nunmehr erheblichen Gefahr der Stilllegung der Fahrzeuge droht den Autoherstellern für diesen Fall eine neue Klagewelle.
Gerade die Thematik der vorsätzlichen sittenwidrigen Schädigung hat den Klagen der Verbraucher regelmäßig einen Strich durch die Rechnung gemacht.
In unserer langjährigen Erfahrung auf dem Gebiet des Diesel-Skandals sehen auch wir in diesem neuen Urteil des EuGHs die Möglichkeit, die Automobilhersteller doch noch zur Verantwortung zu ziehen. Eine fahrlässige Pflichtverletzung ist in jedem Fall um einiges leichter nachzuweisen, als eine vorsätzliche sittenwidrige Täuschung.